KSG Andernach


Weihbischof Dr. Felix Genn: Schulqualität - Lebensqualität.
Schule im Spannungsfeld der Vermittlung
von Wissen und Werten

Vortrag anläßlich des Salentiner-Gesprächs am 9. Mai 2003 im Kurfürst-Salentin-Gymnasium Andernach



Einleitung

"Wissensgesellschaft braucht Wertefundament" - so ist der Erfurter Appell des Bundes der katholischen Unternehmer Deutschlands überschrieben.

"Die moderne Wissensgesellschaft", so schreiben die Verfasser, "häuft immer mehr Spezialwissen an und verliert dabei den Überblick. Dabei büßen wir die Fähigkeit ein, dieses Wissen einzuordnen und zu bewerten. Gerade eine normative Einordnung wird aber umso dringender, als der rasante wissenschaftliche Fortschritt zwangsläufig die Frage aufwirft, ob der Mensch alles machen darf, was er kann. Sachwissen allein kann nicht als Fundament einer Kultur dienen und hält die Gesellschaft nicht zusammen." (BKU-Journal 3/02,10)

Dr. Felix Genn am Tag seiner Amtseinführung
als Bischof von Essen
Derartige Aufrufe aus der jüngeren Vergangenheit lassen sich sicherlich auch aus anderen gesellschaftlichen Gruppen und Kreisen aufzählen. Seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog Bildung zum Mega-Thema erklärt hat, seit PISA und die Folgestudien Politiker mit allen, die sich in unserer Gesellschaft verantwortlich wissen, aufgeschreckt haben, gehören Bildungs- und Schulpolitik zu jenen Themen, die nicht bloß in einem abgezirkelten Raum, sondern in breiter Öffentlichkeit diskutiert werden.

Ich erinnere daran, daß die Unternehmensberatung McKinsey ein "Manifest zur Bildung" vorgelegt hat. Ich denke an den 14. Shell-Jugendbericht, der die Frage provoziert, was wir unseren Jugendlichen in Ausbildung und Schule vermitteln sollen. Die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule werden unmittelbar an den Konstanzer Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 23./24.10. 1997 denken, seitdem die politisch Verantwortlichen in den Bundesländern Maßnahmen getroffen haben, die die Qualität der bundesdeutschen Schulen - und dabei war vor allem an die Leistungsfähigkeit gedacht - genauer und durch qualifizierte Evaluationen in Augenschein nahmen, so daß auch deutsche Schulformen internationalem Vergleich standhalten und das Bildungssystem innerhalb der Bundesrepublik durchlässiger wird. Von einer Kultur der Anstrengung, einer Stärkung der allgemeinen Kultur und Wertschätzung des Lernens, von Herausbildung übergreifender personaler und sozialer Kompetenzen - Schlüsselqualifikationen genannt - war die Rede (vgl. D. Skala, Qualitätssicherung als Thema in der aktuellen politischen Situation, in: Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 154, S. 7). Die Klagen von Eltern, Arbeitgebern, von Universitäten - Arbeitergeber und Universitäten als die "Abnehmer" der schulischen "Produkte"; man schauert vor diesen Worten - sind allseits bekannt. Von Finanzproblemen, die selbstverständlich in diesem Bereich eine Rolle spielen, wage ich nicht zu sprechen, weil ich hierzu nicht die Qualifikation mitbringe; aber gerade diese Probleme lassen oft nicht Ideologie frei über schulische Fragen sprechen, ist doch Ideologie immer auch eine von bestimmten Interessen geleitete Erkenntnis.

Klar ist, daß Schulen viel stärker als früher in Konkurrenz treten. Die Flexibilität und Mobilität unserer Gesellschaft erlaubt es ohne weiteres, Kinder zu Schulen zu schicken, die Kilometer weiter entfernt sind als das naheliegende Gymnasium oder die naheliegende Realschule.

Als Mann der Kirche möchte ich nicht vergessen, daß sich auch die katholische Kirche in die Bildungsdiskussion mehrfach eingeschaltet hat. Ich will dazu nur drei Informationen mitteilen:
  • Im November 2000 veranstaltete die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam mit der EKD einen Bildungskongreß in Berlin mit dem Titel: "Tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung". Der Präsident der Georgetown-University in Washington hat dabei einen vielbeachteten Vortrag unter diesem Titel gehalten und deutlich gemacht, wie sehr die Bildungsdebatte übernational zu sehen ist.
  • Unter den Arbeitshilfen, die die Deutsche Bischofskonferenz herausgibt, gibt es ein eigenes Heft mit dem Thema "Schulqualität". Darin finden sich unter anderem Aufsätze zu den Themen "Qualitätssicherung" und "Pädagogische Überlegungen zur Schulqualität und ihrer Evaluation".
  • Erst kürzlich hat ein Bundeskongreß Katholische Schule in Bonn stattgefunden, bei dem Kardinal Lehmann einen Vortrag zum Thema "Schule als Ort wertbezogener und personalorientierter Erziehung" gehalten hat. Offensichtlich ist, was sich unter all diesen Titeln, Manifesten, Vorträgen und Veranstaltungen verbirgt: Schule steht im Spannungsfeld der Vermittlung von Wissen und Werten.


Vorbemerkungen

1. Bevor ich einige Gedankensplitter dazu äußere, möchte ich es nicht versäumen, etwas aus meinen Erinnerungen mitzuteilen. Dabei bewegt mich weniger Nostalgie, sondern Erinnerung im wörtlichen Sinn: Das, was sich in meinem Inneren festgesetzt hat und was ich als kostbaren Schatz aus den Jahren 1961 bis 1969 am Andernacher Kurfürst-Salentin-Gymnasium bewahre. Die Thematik des heutigen Abends ist nämlich darin aufgehoben. Schulqualität hat mir Lebensqualität vermittelt. Ich habe Schule nicht in einem Spannungsfeld der Vermittlung von Wissen und Werten erlebt. Vielmehr durfte ich erfahren, daß mir mit Wissen Werte vermittelt wurden.

Damals trug das Andernacher Gymnasium noch den Titel "Humanistisches Gymnasium". Sollte man das dem Mann auf der Straße erklären, so erzählte man, daß man in Andernach am Jungengymnasium mit Latein beginnt und die Möglichkeit hat, als dritte Fremdsprache zwischen Englisch und Griechisch bzw. nach 1963 zwischen Französisch und Griechisch zu wählen. Humanistisch war so viel wie altsprachlich, und altsprachlich vermittelte den Eindruck, als sei hier eine Schule, die konservativ und vom Leben abgehoben Schülern etwas vermittele, was sie für ihr Leben kaum brauchen können. Platt ausgedrückt: Englisch muß jeder können, mit Griechisch kann man nichts anfangen.

Schon als Schüler, so weiß ich mich zu erinnern, habe ich mich gegen solche oberflächlichen Urteile gewehrt. Dies entsprang nicht bloß der Freude an den alten Sprachen, die hatte ich zweifellos auch. Vielmehr bewegte mich die Erfahrung, daß mir an diesem Gymnasium durch den Stoff und die Lehrer vermittelt wurde: Die Welt, in der du lebst, ist geprägt von Geschichte und Kultur. Die Welt, in die du gehst, und in der du einmal eine Aufgabe in irgendeinem Beruf übernehmen wirst, braucht jene Kulturgüter, die in der Tradition der Griechen und Römer durch die Brechung des christlichen Glaubens in das Abendland vermittelt wurden und Europa geformt haben. Diese Werte aber sind Werte zutiefst humaner Natur, sind Werte, die dem menschlichen Dasein ein Ambiente vermitteln und ein Fundament überbringen, das nicht nur von Funktionen und Machbarkeit, von Technik und Brauchbarkeit lebt, sondern den Horizont auf jene Bereiche hin weitet, die mit den Begriffen des Wahren, des Guten und des Schönen umschrieben werden können und dem Leben des Menschen Würde verleihen. Ich will das nur an einem einzigen Satz deutlich machen, der aus Platons Gorgias stammt: "Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun". Zitate dieser Art ließen sich beliebig vermehren und können deutlich machen, daß die Lektüre der klassischen Autoren nicht nur die Qual von Grammatik und Vokabular beinhaltet, sondern Welt aufschließt.

Ich könnte diese Erfahrungen auch ausdehnen auf andere Fächer, und ich müßte dabei sprechen von der Vermittlung, die über die Personen der Lehrer Wissen und Werte als Einheit dargeboten haben. Schulqualität war wesentlich geprägt durch die Persönlichkeiten der Frauen und Männer, die ihre Aufgabe als Lehrer - so habe ich es jedenfalls wahrgenommen - mit dem Begriff "Beruf" richtigerweise charakterisiert haben.

Ich möchte noch eine letzte Erinnerung benennen. Meinen ersten Besinnungsaufsatz hatte ich zu schreiben unter dem Titel ,,Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern auch eine Lebensauffassung". Dieser Satz von Theodor Heuss ist in meinem Herzen hängen geblieben. Er hat mich geprägt - und dies nicht nur als Staatsbürger, sondern auch in vielfältigen Bereichen meines konkreten kirchlichen Dienstes. Was nämlich in diesem Satz formal von der Demokratie gesagt wird, läßt sich beliebig auf andere Bereiche ausdehnen, was auszuführen ich mir an diesem Abend versagen muß. Ich habe allerdings an dieser Schule nicht nur diesen Satz gelernt, sondern gerade in den Auseinandersetzungen der Endsechziger Jahre die konkrete Umsetzung erfahren und erlebt. Schule war auch ein Lernfeld für Demokratie in einem gesellschaftlichen Umbruch, dessen Ausmaße 1968 geahnt, aber noch nicht übersehen werden konnten; erst recht nicht die Folgen, die dieser Umbruch bis zur Stunde zeitigt.

2. Ich möchte eine zweite Vorbemerkung ausführen, die uns ebenfalls in die Gesamtthematik unseres Abends einführt: Was ist eigentlich Schulqualität? Was heißt Qualität überhaupt?

Folge ich meiner philosophischen Bildung, so weiß ich, daß Qualität zu den Akzidentien zählt. Die Kategorie der Qualität ist eine Aussageform über jedwede Beschaffenheit einer Wirklichkeit und einer Substanz. Im philosophischen Wörterbuch von Walter Brugger (9. Auflage Herder Freiburg 1953, 246) lese ich zur Bestimmung von Qualität: Qualität ist "eine innere, absolute und von der Quantität unterschiedene Bestimmung der Substanz".

Was ist also die Bestimmung der Substanz, wenn wir von Schulqualität sprechen? Woran mißt sich eine Qualität überhaupt? Was heißt das "eine gute Schule"? Man spricht von Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement, Qualitätsorientierung, Qualitätsplanung, Qualitätssicherung, Qualitätssteuerung. Man stellt Programme zur Schulentwicklung auf. Qualität ist ein Schlüsselbegriff für alles und jedes, also auch für die Schule. Aber ist unter dieser Rücksicht Qualität noch eine objektive Kategorie, oder ist sie nicht vielmehr, wie es in einem Aufsatz heißt, "eine regulative Idee"? (vgl. V. Ladenthin, Pädagogische Überlegungen zur Schulqualität und ihrer Evaluation, in: Arbeitshilfe 154, 15). Es gibt keinen Konsens darüber, was eine gute und qualitätsvolle Schule ist; vielmehr muß dieser Konsens jeweils geschaffen werden in einem nach vorne offenen Prozeß. Genau hier liegt das Problem.

Was ist eine gute Schule?

1. "Schule ist nicht Teil des Erwerbssystems, sondern Bedingung" (V. Ladenthin, 17). Es ist offensichtlich, daß die gegenwärtige Bildungsdiskussion funktionalistisch eng geführt wird. Bildung wird als Zurüstung zum Arbeitsmarkt verstanden. Schule soll optimal den Bedürfnissen des Beschäftigungssystems angepaßt werden. Schüler sind Kunden, denen man etwas vermittelt, damit sie wirtschaftlich für die zukünftige Erwerbsarbeit bestens gerüstet sind. Deshalb ist es notwendig, ein fachwissenschaftliches Profil herauszuarbeiten, Wissen zu vermitteln, das Leistungssteigerung und Leistungsförderung im zukünftigen Berufsleben vermittelt. Die Folge davon ist, daß aus der Fülle des Wissens nur noch ein bestimmter Kanon ausgewählt werden kann. Spezialwissen häuft sich, der Überblick geht verloren.

Die Frage aber, wie Wissen einzuordnen und zu bewerten ist, ist bereits eine Frage, an der sich die Geister scheiden, weil sie die Unterscheidung und Entscheidung herausfordert. Was wähle ich zu welchem Zweck aus? Wie ordne ich welches Wissen ein? Qualität als Kategorie braucht einen Oberbegriff, der das System der Vermittlung von Wissen ordnet. Qualität braucht eine Wert-Entscheidung, aus der heraus sich die Ordnung des Wissens und seine Darlegung ergeben. Das ist aber ein heikler Punkt; denn an dieser Frage entscheidet sich z. B. auch, wie notwendig Sport, Musik, Kunst und erst recht das Fach Religionslehre sind. Brauche ich das denn überhaupt für mein Leben und für meine Erfahrungen im Berufsalltag?

Ernst Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Verfassungsrichter, hat den klassischen Satz geprägt, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er sich selbst nicht geschaffen hat. Gilt das nicht auch für den Erwerbsbereich, daß er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht herstellt? Deshalb braucht es den Rückgriff auf das klassische Bildungsideal Europas. Dabei ist klar: "Sowenig der Mensch sich in bestimmten Weisen und Vollzugsformen von Arbeit erschöpft, kann Bildung gleichsam nur eine nützliche Vorstufe für eine bestimmte Ausbildung sein" (Lehmann). Ja, jeder Ausbilder weiß, daß ein Mensch nicht nur von dem lebt, was er zu schaffen vermag, sondern daß Arbeit auch gestaltet wird durch eine Grundorientierung dessen, der arbeitet. Denken Sie z. B. nur an Themen wie Verläßlichkeit, Pünktlichkeit, Sorgfalt usw. Sind das nur Sekundärtugenden?

2. Der klassische europäische Bildungsbegriff bleibt humanistisch

Bildung, so hat der Bildungsbegriff des Abendlandes es immer verstanden, ist mit konkreter Humanität verbunden. Anders gibt es keine Kultur. Ich weiß, daß dies eine These ist. Es ist klar, daß der Wertbegriff in der Philosophie, in der Theologie, in den Rechts- und Sozialwissenschaften unserer Tage umstritten ist, ja von einigen sogar abgelehnt wird. Andererseits gibt es ein erneutes Nachdenken über Werte, ihre Entstehung und ihre Vermittlung. Ich brauche nur an das Werk von Hans Jonas über das Prinzip Verantwortung zu erinnern.

Mit Kardinal Lehmann möchte ich formulieren: "Für Bildung und Erziehung ist der Wertbegriff bei allen Vorbehalten unverzichtbar. Denn jeder Fächerkanon, jeder Stunden- und Lehrplan beruht auf Entscheidungen darüber, welche Inhalte und Gegenstände es wert sind, unterrichtet zu werden. Bildungsdiskussionen sind Diskussionen darüber, welches Wissen und welche Verhaltensweisen wir für so wertvoll halten, daß wir sie der nachwachsenden Generation vermitteln wollen."

Deshalb halte ich es für einen Wert, wenn wenigstens in einem dauernden Verständigungsprozeß zwischen den Unterrichtenden, den Schülerinnen und Schülern, den Eltern, der Schulaufsicht und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppierungen um das Thema gute Schule gerungen wird. Widmet sich z. B. eine Gesamtkonferenz Schlüsselbegriffen wie "Übernahme von Verantwortung, Werteorientierung in Kommunikation, Einigung auf wenige Kernwerte"? Die Liste ließe sich fortsetzen.

Vor allem scheint mir eines bedenkenswert: Die Auswahl des Wissens und das Wissen selbst vermittelt in sich Werte. Vermittlung von Wissen und Werten ist nicht ein Nebeneinander zweier Wirklichkeiten, sondern ineinander verschränkt. Im Wissen empfange ich Werte. Durch Wissen bekomme ich das Fundament von Werten. Genau das ist die Erfahrung meiner Schulzeit am Andernacher Gymnasium. Genau das kennzeichnet für meine Begriffe eine gute Schule.

3. Eine Schule soll am Menschen Maß nehmen, ohne den Menschen zum Maß aller Dinge zu machen.

Die Herausforderungen der Lebenswissenschaften, der Bio- und Gentechnik ebenso wie die furchtbaren Erfahrungen des 11. Septembers 2001 oder die Ereignisse am 26. April 2002 in Erfurt zwingen geradezu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, worauf unsere Kultur, unsere Gesellschaft, worauf die Zivilisation der Menschen gründet. Die Entscheidungen sind unausweichlich geworden, ob der Mensch alles machen soll, was er kann, und was er besser unterläßt. Oder wir verbleiben individualistisch, so daß jeder für sich entscheidet, was Wert ist, und daß es dann nur eines gesellschaftlichen Konsenses bedarf, der in mühsamem Diskurs errungen werden muß, um festzulegen, was für alle einigermaßen das Gute ist. Braucht es selbst dann nicht eine grundlegende Orientierung?

Und wäre nicht der Satz, den ich als Überschrift gewählt habe, eine solche grundlegende Orientierung? Ich wiederhole: Eine Schule soll am Menschen maßnehmen, ohne den Menschen zum Maß aller Dinge zu machen - hier könnte man wieder zu diskutieren beginnen. Zunächst erinnert er an den Gorgias, wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist. Er erinnert aber auch an die Auseinandersetzung Platons, der sich gegen die Sophisten gewehrt und herausgearbeitet hat, daß der Mensch eben nicht das Maß aller Dinge ist, sondern daß er bezogen ist auf das Gute schlechthin. Hier liegt die entscheidende Unterscheidung für Platon. In einer Welt der Ökonomisierung aller Bereiche hat diese Auseinandersetzung der Antike nichts an Bedeutung verloren; es erscheint mir sogar notwendig, genau um diese Unterscheidung zu wissen. Der Philosoph Robert Spaemann spricht davon, daß Fortschritt wesentlich davon abhänge, daß wir nicht einfach vergessen, was man schon einmal wußte (Erfurter Appell des BKU, im BKU-Journal 3/02, 10).

Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Aber er ist, und hier setze ich mit Johannes Paul II. entgegen, der Ausgangspunkt, die Mitte und das Ziel allen Unternehmens. Dies ist ein Gegenentwurf zum Gorgias. Für Gorgias und die Sophisten ist der Mensch das Maß aller Dinge. Diskutiert man das bis zum Ende durch, endet es in Beliebigkeit und Willkür. Wird aber der Mensch auf etwas bezogen, das ein Absolutum darstellt und das als solches wahr, gut und schön ist, erhält der Mensch überhaupt erst eine Würde, so daß er ein Orientierungspunkt werden kann, an dem auch Schule Maß nimmt. Im Maße der Mensch im Mittelpunkt der Auswahl der Inhalte steht, umso mehr bestimmt sich schulisches Leben und die Qualität einer Schule vom Menschen her. Schule wird zur guten Schule, wenn sie Maß nimmt am Menschen. Das aber bedeutet doch, daß grundsätzlich akzeptiert wird, daß der Mensch einen Wert darstellt, der nicht um sich selbst kreist, der sich auch nicht selbst bestimmen kann, sondern der sich von anderswoher definiert. Tut er das nicht, ist zumindest die Gefahr der Willkür unausweichlich - denn wir können nicht darauf hoffen, daß ein Philosophenstaat entsteht, in dem die Lehrer, die die Liebe zur Weisheit pflegen, uns vor jener Willkür bewahren.

Wer groß vom Menschen denkt, wird einen Menschen auch groß werden lassen. Ich rechne mit Ihrem Verständnis, wenn ich als Bischof betone, daß solche Aussagen genau zu jenem Erbe gehören, das wir als Kirche in die Gesellschaft einzubringen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man vom Menschen anders denken kann als in der Bezogenheit auf das Gute. Ich sage, daß dieses Gute Gott ist. Hier scheiden sich notwendigerweise die Geister. Aber das Erbe der jüdisch-christlichen Religion ist genau dies, weil sie von Gott redet, spricht sie und denkt sie groß vom Menschen. Weil sie von Gott redet, verleugnet sie sich immer dann selbst, wenn sie zum Schaden des Menschen wird. Bekennt das Christentum zudem noch, daß Gott selber Mensch wird und daß er durch alle Dimensionen des menschlichen Daseins und seine Existenz schreitet bis hinab in Tod und Grab, dann erst bekommt das Wort des 8. Psalms seine Bedeutung: "Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du es beachtest?"

Ich möchte nur anfügen, daß es mich immer wieder beeindruckt hat, wahrzunehmen, daß der französische Theologe und spätere Kardinal Henri de Lubac ausgerechnet Weihnachten 1943, als Frankreich am Boden lag, seine große Untersuchung über die Philosophen des 19. Jahrhunderts herausgegeben hat, die er unter anderem als geistige Wurzeln des Nationalsozialismus ansah. Um des Menschen willen glaubten sie, auf Gott verzichten zu sollen, Feuerbach, Nietzsche, Comte. Im Gegenzug dazu hat Lubac den Russen Dostojewskij herausgearbeitet und seinem Werk den Titel gegeben "Das Drama des atheistischen Humanismus"- deutsch von Urs von Balthasar unter dem Titel übersetzt "Über Gott hinaus - Tragödie des atheistischen Humanismus."

Unsere Überlegungen haben Folgen für den Begriff der Autorität. Autorität leitet sich aus dem Begriff der auctoritas ab; auctoritas aber kommt von dem Verbum augere. Autorität will mehren. Wer Autorität hat, will Mehrer sein, Mehrer des Lebens. Deshalb ist Schule mehr als der Ort, an dem ich viel lerne, sondern es ist der Ort, der für eine Lebensspanne einen Lebensraum darstellt und in dem ich Menschen begegne, die meine Lebensqualität mehren wollen. Das bedeutet für das Lernen selbst, daß es ein individueller Vorgang ist, der sich wesentlich im Gespräch und im Dialog vollzieht. Schule will Bildung realisieren als Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung. Deshalb ist die Rolle des Lehrers so wichtig. Eine gute Schule wird durch gute Lehrer bestimmt, durch Männer und Frauen, die die Balance halten zwischen Sach- und personaler Kompetenz. Deshalb geschieht Lernen auch durch Vorbild.

Dies ist nicht romantisch gemeint im Sinne eines Lehrers, der eine Elternersatzrolle spielt, vielmehr im Sinne dessen, daß der Lehrer und die Lehrerin Erfahrungen der Vergangenheit, die sie sich in ihrer eigenen Person zu eigen gemacht haben, vermitteln können, die wissen, was das Wahre, das Gute und das Schöne ist, und die sich den Sinn bewahrt haben für das "Übernützliche" - ein Wort von Thomas Mann übrigens. Im Vollzug bedeutet das: Dialog und Auseinandersetzung.

Mit anderen Worten: Schule vermittelt eine umfassende Persönlichkeitsbildung und trägt dazu bei, in einem lebenslangen Prozeß von den Fundamenten zu zehren, die die Schule an personalen und sozialen Kompetenzen entwickelt hat. Deshalb scheut sich Schule auch nicht vor klaren Leistungsstandards. Sie scheut sich aber ebenso wenig davon, neben dem Wissensstandard auch die humanen Ressourcen auszubilden, die in Verantwortungsbewußtsein, Teamfähigkeit, Kommunikations- und Kritikfähigkeit bestehen. Hier wird Demokratie nicht nur als Staatsform, sondern als Lebensauffassung eingeübt. Insofern ist Schule auch der Ort, der Menschen zukunftsfähig macht.

4. Vertrauen als grundlegende Wertorientierung

Es ist interessant festzustellen, daß der Leiter der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Dr. Rainer Hank, einen Artikel verfaßt hat mit der Überschrift "Wieviel Vertrauen braucht der Kapitalismus?" Dr. Hank betont, daß der liberale Staat das Vertrauen, das zu seinem Funktionieren, aber auch für eine prosperierende Wirtschaft notwendig ist, selbst nicht erzwingen kann. Er muß es moralischen Institutionen entlehnen der Familie, der Schule, der Religion.

Ich zitiere eine längere Passage: "Denn es gehört zum Glaubensbestand aller großen monotheistischen Religionen, daß Gott mit dem Vertrauen angefangen hat: durch seine Schöpfung. Nur mit einer solchen anfänglichen Vertrauens-Setzung, so die theologische Sprache, kommt Geschichte (religiös gesprochen: Heilsgeschichte) überhaupt in Gang. Nach christlichem Glauben ist Gott sogar ein zweites Mal bereit, mit dem Vertrauen anzufangen - nachdem die Menschen Vertrauen verspielt haben. Schöpfung und Erlösung sind weltgeschichtliche Anfänge einer Vertrauensdynamik. Die Dynamik der Reziprozität ist damit in Gang und Vertrauen im Prinzip möglich. Mit anderen Worten: Am Beginn moralischer Institution steht die Religion." (Hank, R., Wie viel Vertrauen braucht der Kapitalismus, in: Berthold und Gundel (hrsg., Theorie der sozialen Ordnungspolitik, Stuttgart 2003, 287). Es ist der Wirtschaftsredakteur einer deutschen Tageszeitung, nicht irgendein Theologe, der dies sagt. Schule, die Vertrauen schafft - und dies geht nur in einem Kommunikationsgefüge -, hat ihre Qualität in sich. Vertrauen aber ist nur möglich, wenn es ein Fundament gibt, das sich aus anderen Quellen speist und von anderen Voraussetzungen lebt, die ein bloßes Funktionieren eines Systems übersteigen.

Vertrauen macht zukunftsfähig; denn im Vertrauen lernt der junge Mensch Verantwortung für sein eigenes Leben zu finden. Er wird befähigt zur gesellschaftlichen Teilnahme. In einer Wissensgesellschaft, in der sich das Wissen zunehmend vermehrt, bedarf es des lebenslangen Lernens. Vertrauen kommt aber lebenslangem Lernen entgegen und zuvor. Eine Schülerin hat einmal gesagt, daß aus dem Vertrauen die Kraft erwächst, sich innerlich zu öffnen und nach dem Fremden zu greifen, auf den anderen zuzugehen. Nur wenn ein Mensch aus der Erfahrung lebt, daß der andere mir gut gesinnt ist, ist es möglich, vertrauensvoll auf den anderen verwiesen zu bleiben, selbst wenn Bosheit und Haß zur Erfahrung werden. Ein Staat lebt davon. Erziehung und Bildung können nur im Vertrauen geschehen, im Vertrauen auch auf den "Mehrer", der der Lehrer sein soll. Er will nämlich helfen, nicht nur in eine Tradition einzuweisen, sondern die vielen Lebenswelten unserer pluralistischen Gesellschaft mit ihrer Komplexität und Pluralität in einer dem gemäß differenzierten Schule in einer Grundorientierung zu vermitteln.

In der Shell-Studie wird der junge Mensch als der flexible Egotaktiker geschildert, der nach dem Motto lebt: "Bleib' in Bewegung, geh' keine Bindungen ein und bring keine Opfer." Aber: Kinder und Jugendliche brauchen verläßliche Rahmungen, brauchen Menschen, die Auskunft geben, was Wert ist zu leben.

Was bedeutet das für einen methodisch abwechslungsreichen Unterricht? Was bedeutet das für Schüler aktivierende und lernaktive Methoden? Was bedeutet das für die Rolle des Lehrers als Wissensvermittler und Berater, der einen Lernprozeß unterstützt?

Vertrauen hilft, daß Menschen aufgrund einer Autorität von einem Wert ergriffen werden, weil der Wert sich in einer Person ausgeformt hat. Oft ist vom Zeugnis des Lebens die Rede, wenn von den Lehrern gesprochen wird. Das Zeugnis des Lebens erweist sich aber auch, indem die Räume, das Gebäude, die Einrichtung selbst einladend wirken, daß es schön ist, und daß es gut ist zu leben. Wie sieht diese schulische Wertevermittlung aus?

Und schließlich: Vertrauen institutionalisiert sich in der Gemeinschaft. Dort prägt es sich aus. Wie ist die Erziehungsgemeinschaft der Schule? Hier werde ich deutlich: Natürlich weiß ich, daß nicht mehr jeder das christliche Ethos und erst recht nicht den christlichen Glauben für sich akzeptiert. Aber das christliche Ethos beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Adressatenkreis. Christliches Ethos ist nicht exklusiv, sondern kommunikabel. Deshalb ist es notwendig, daß in einer Schule der Religionsunterricht nicht ausfällt. Er ist nämlich jener Ort, an dem die Schülerinnen und Schüler nicht nur ins Gespräch darüber kommen, was es an Religionen gibt und wie diese Welt und Leben begreifen. Es ist auch nicht nur der Ort, an dem soziales Lernen aufgearbeitet werden kann, es ist vielmehr der Ort, an dem in der Schule am stärksten deutlich wird, daß der Mensch nicht nur vom Funktionieren und von der Leistung her lebt, sondern von der Gnade. Ja, daß der Mensch sich selbst ein Geschenk ist. Sie werden es mir nicht, verehrte Damen und Herren, verübeln, daß ich als Bischof beim Reden über Schul- und Lebensqualität und der Vermittlung von Wissen und Werten diesen Satz ausspreche.

Aber damit möchte ich nicht schließen, sondern mit einigen Versen von Hilde Domin. In ihrem Gedicht, ausgerechnet überschrieben mit dem Titel "Die Heiligen" schreibt sie:

"Sie sind müde, aber sie bleiben,
der Kinder wegen.
Sie behalten den goldenen Reif auf dem Kopf,
den goldenen Reif,
der wichtiger ist als die Milch.
Denn wir essen Brot,
aber wir leben von Glanz.
Wenn die Lichter angehen
vor dem Gold
zerlaufen die Herzen der Kinder
und beginnen zu leuchten
vor den Altären.
Und darum gehen sie nicht:
damit es eine Tür gibt
eine schwere Tür
für Kinderhände
hinter der das Wunder
angefaßt werden kann"

(Hilde Domin, Nur eine Rose als Stütze, 30 f.).


Meine Damen und Herren, nur Bildungsbürgertum oder Notwendigkeit? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.